03.04.18

Als Coach: Über das Nachdenken nachdenken ...

Vor zwei Tagen stehe ich im zugewandten nachbarschaftlichen Gespräch mit einer Frau, die vermutlich mein Alter hat, so um 55 rum. Es geht mir dabei um unsere Jahrgänge und die Zeit, welche wir beide in der Weltzeit erlebten:

  • Nachkriegseltern
  • 68er Revolte in Deutschland
  • Hippiezeit, Aufbruch
  • Sexuelle Befreiung
  • Emanzipation
  • Intellektuell getriebener, deutscher Terrorismus
  • Mondlandung, Autobahnen, Farbfernsehen, Muhamed Ali ...
  • DER SPIEGEL mit Augstein
  • etc. 

Erst in den 90ern - dreissig Jahre später - das Internet, die Bildschirme drängen sich vor, Börsenhype, Ego nach Schirrmacher - die ganze Selbstoptimierung.

In unserem Alter stehen zwei Generationen am Start oder im Gedränge des arbeitsamen Alltages, welche mit deren 'Zeit der Weltentwicklung' leben. Das bedeutet aber auch, dass sie allenfalls Dinge nie, nicht oder so nicht wirklich erfahren haben.

Und dann stellt im Gespräch die Frau folgende Frage - die mich seither beschäftigt:


"Ich habe mich immer gefragt, ob die (diese beiden Generationen) je gelernt haben, nachzudenken?"

Die Frage ist mE ein Hammer. Gab es für diese Generationen Anlass, nachzudenken? Und wenn ja, von welcher Natur? Wie wurde, wie wird gedacht? Nachdenken, wie notwendig ist das noch? Und wie gelenkt wird es?

Denn wenn uns Algorithmen aus den Berechnungen, mit Ursprung aus dem Kalten Krieg (Schirrmacher), immer nur die 'Optimierte Variante' errechnen und "erkennen" lassen, das Mehr, das Meins, das Haben und Wollen, dann denken wir nicht mehr wirklich, sondern verschaffen uns nur noch den Vorteil (ohne das inhaltlich hier zu bewerten).

Wenn wir aber nur noch das Positive, das Bessere, das Gewinnende und Habende bzw. Besitzende, den Erfolg, den Gewinn und die Optionen im Blickfeld haben, gibt es

a) wirtschaftlich wie politisch keinen Anlass noch nachzudenken und
b) keine Idee, keine Vorstellung für sich oder fürs Gemeinwohl in einer Weise zu denken, welche eine Gesamtschau betrachten würde: Man sucht keine Kritik, kein Negatives, keinen Zweifel, keine Selbstkritik, Moral, Ethik, etc. etc.

Im Not'bedingten Aufbruch der 60er- und 70er-Jahre waren die Zersetzung, die Dekonstruktion, das Nein und die Ablehnung das Mittel, sich aus seiner Lage zu befreien - ja das Denken an sich war der Sprengstoff seiner Zeit. Man erteilt der Lage eine intellektuelle, also erdachte Absage und hatte hierfür entlarvende wie transparent machende Argument bis hin zur philosophischen Schule, Lehre und Sprache. Man war damals "hellwach".

Das könnte mit der Frage der Nachbarin nun in Frage gestellt sein, für 20-, 30- und 40-Jährige, welche im Schutz von Konsum, Marketing, Arbeitsmarkt und der Gesellschaft, last but not least per Smartphone, Internet, Apps und all der Algorithmen, nur den Anteil suchen, der fürs Leben die Optimierung darstellt.

Bild: iPhone von Jona Jakob, 2017, Ägypten Tolle Stühle, in denen ich mich wohl fühlte.

Als Coach, der fast ausschliesslich mit der Reflexion der Klienten arbeitet, sah ich es für selbstverständlich an, dass man als Mensch das Bedürfnis verspürt, mindestens im Coaching nachzudenken - aber vielleicht nun nicht? Oder jemand "kann das nicht", weil einfach nie vorgelebt, gefunden, gesucht, erlernt. Das wäre ja möglich.

Klar, man denkt an all das, was man noch zu tun hat und versucht, ein möglichst geachteter Mensch für andere zu werden, ob in Job, Liebe, Geldsachen oder heute auch in Fragen der Gesundheit, Natur, Gesellschaft. Aber eben, man optimiert "nur" seine Lage, getreu dem neoliberalen Grundsatz: Schaut jeder für sich, geht es allen besser.

Aber Nachdenken ist das noch lange nicht! (JJ)

Und so meine ich, die Frage schuf in mir als Coach ein Bewusstsein ob meine Klienten

- nachdenken mögen
- nachdenken können
- Nachdenken kennen
- auf welche Weise sie nachdenken
- in welcher Zeit die Weise des persönlichen Nachdenkens entstand
- ob es Ängste gibt, nachzudenken
- ob es Sinnlosigkeit gibt, nachzudenken
- ob einfach alles "klar" ist - es kein Bedürfnis gibt, nachzudenken

Das Denken bzw. die Reflexion ist eine Art Kunst und Können, wie ein Instrument spielen, Dinge aus mehreren Perspektiven, Betrachtungsweisen, Werten und Orientierungen und mit der Kenntnis unterschiedlicher Schulen betrachten und für sich selber einordnen zu können. Man muss das nachher nicht für sich annehmen - aber unterscheiden sollte man es können, um etwas freier entscheiden zu können. Denn sonst folgen Sie unbewusst nur dem Algorithmus, der in uns allen bloss rechnet.

Die Frage, zumindest für den Coachingansatz steht also zuerst:

Mögen Sie überhaupt nachdenken? Und können Sie das?
Und angenommen Nein, was schafft das für eine Situation?

Dass ich annehme, was ist, ist schon richtig. Aber neben den Klienten und Klientinnen, die so sind, wie sie sind, ist das Nachdenken ebenso ein Vorhandenes - und ebenso sein zeitlich ganz Eigenes. Danach sind wir dann schon bei der Philosophie - dem schier Ewigen.

Man muss die Frage annehmen und sich ihr stellen, denke ich: Hat jemand nachdenken gelernt - in seinem Leben schon erfahren?

Das ist keine Vermessenheit, das ist wertfrei und damit bedenkbar.  Oder möchten Sie mit falschen Vor-Gaben als Klient - da falsch "angenommen" - ver'kannt werden?