17.05.20

Kommunitarismus (Community) - oder: Wo befinde ich mich mit meinem Denken und Fühlen?

"Der Begriff 'Kommunitarismus' geht auf das englische 'community', zu deutsch 'Gemeinde' oder 'Gemeinschaft', zurück. 

Anhänger des Kommunitarismus werden als Kommunitarier oder Kommunitaristen bezeichnet; übersetzbar wäre dies etwa mit 'Gemeinschaftler'. Der Kommunitarismus ist eine schillernde Strömung, die sich einer exakten Einordnung in das gängige Links-Rechts-Schema entzieht. Er stellt, kurzgefasst, eine Reaktion auf die Sinn- und Orientierungskrise liberaler Gesellschaften dar. So kritisieren die Kommunitaristen den Verlust an Verbindlichkeiten und an Gemeinsinn stiftenden Werten sowie mangelnde Solidarität. Zurückgeführt werden diese Erscheinungen auf den vom Liberalismus betonten Individualismus sowie auf das liberale Leitbild des mündigen, bestehende Wert- und Sozialordnungen kritisch reflektierenden Menschen. (...) Ganz allgemein ist der Kommunitarismus gemäß Amitai Etzioni, dem prominentesten Kommunitaristen, 'eine Bewegung zur Verbesserung unserer moralischen, sozialen und politischen Umwelt'.

Worum geht es nun den Kommunitaristen konkret?
Nach Etzioni geht es um die Rekonstruktion der Gemeinschaft, der Community, um die Wiederherstellung der Bürgertugenden, um ein neues Verantwortungsbewusstsein der Menschen, um die Stärkung der moralischen Grundlagen unserer Gesellschaft. Was die Kommunitaristen verbindet, ist die Auffassung, dass die Forderung nach Autonomie und Selbstbestimmung des Individuums den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft untergräbt und das gesellschaftliche Wertesystem aushöhlt. Eindämmen wollen die Kommunitaristen den von ihnen beklagten ausufernden Pluralismus und Werterelativismus durch eine gemeinschaftliche Vorstellung vom Guten, durch die Wiederbelebung von Traditionen sowie von Moral- und Wertvorstellungen.

Grundanliegen aller Kommunitaristen ist also die Stärkung der Gemeinschaft.
Ralf Dahrendorf etwa beschreibt den Kommunitarismus als eine Richtung, der es um die Bewahrung bzw. Herstellung überschaubarer Gemeinschaften geht, in denen Menschen sich zuhause fühlen und aus denen sie ihre Kraft schöpfen können."

(Aus: Alfred Gerstl: Die Liberalismus/Kommunitarismus-Diskussion. Anmerkungen zu einer "unbeständigen Begleiterscheinung" des Liberalismus, Vortrag am 23. November 1996 in Berlin. In: texte & thesen 2, 1996)

Bild: leider keine Quelle / von 2008


Bin ich Mitglied einer Art 'Community'?
Jetzt können Sie vielleicht Facebook erkennen. Oder XING unterscheiden. Oder Veganismus. Oder UmweltschützerInnen - auch Rechte, VerschwörerInnen, Hooligans, Homophobe, restlos alle kleineren und größeren Gruppierungen, bei denen man sich selbst "heimisch" FÜHLT. Es fühlen sich auch die Juristen unter sich, die Mediziner, die Banker, die Gewerbler. Es gibt kein Ende solcher Definitions- und damit Zuordnungsgrößen. Das gefühlte Miteinander bindet einen ein und stärkt, z.B. gegen "Feinde". 


Früher galt die Obrigkeit
Herrschaft, Kirche, Staat, Militär, Polizei, Gesetze bis hin zum Arzt, Pfarrer, Lehrer, Besitzer. Alles Top-Down. Alte Schule. Besonders die Demokratie, das (Ver)teilen der Macht, ist geschichtlich und in seiner Situation bedingt daraus hervorgegangen, dass die "Gelehrten und Besitzenden" die Unvermögenden und Analphabeten integrieren konnten, ohne noch beim Leibeigentum bleiben zu müssen. Es war eine Form gestufter Integration. Und das ist es heute noch.

Die damalige Basis für diese Obrigkeit, die "selbstgerechte" (Hinweis auf Wortlauf - keine Kritik), war der Zugang zu den akademischen Wissenschaften. Wissen ist Macht. Das universitäre, früher noch das kirchlich-klösterliche, sowie das militärische Wissen war der Stoff, aus dem die Zäune gebaut wurden - die Frames. Heute Gesetze, Regulierungen, Verordnungen, Staatsaufbau, Grenzen und Freiheiten, etc. Wie ein großes Gitter formten sie die Gemeinschaft eines ganzen Staates. Dann kamen die Staatswährungen dazu, die Gesetze und die Gewaltentrennung. Das war der für alle gültige Orientierungsrahmen - davon ausgehend "dachte" man. 


Das lässt sich heute alles zerreiben.
Unter dem Mantel einer "freien Meinungsäußerung" und unter dem Bedürfnis, mehr zu fühlen und gefühlt zu werden - als distanziert (sachlich) zu denken - definiert man eigene Normen von Gut und Böse, von Richtig und Falsch. Damit sitzt man in der eigenen "Blase" sozusagen an der Macht zu bestimmen, wer dazugehört und wer ausgegrenzt wird. Plötzlich regiert das Bottom-Up, mit Botho Strauß benannt (aus dem Griechischen), den idiotes - der Privatmann. 

Und ist die Verschwörung noch so wirr, braucht es nur der Massen an Menschen, die dem Gedanken folgen und schon entsteht eine Gewalt. Zentraler "Baustoff": Betroffenheit und Gleichklang, als Gruppenprozess die Phase des 'Norming'.


'Betroffenheit' besteht für einen Menschen aus wesentlich menschlicheren Anteilen, als 'Denken' - warum?
Weil 'Betroffenheit' sich an den Gefühlen und Regungen des Innersten, Seelischen, der Psyche des Menschen (ab)reagiert.

'Denken' hingegen distanziert sich in den allermeisten Fällen WEG vom Menschen, HIN zum Gegenstand - zur Sache. Das kann so weit gehen, dass das Denken den Menschen dabei komplett ignoriert, auf Leben und Tod hinaus. Die Wiener Autorin Ilse Aichinger schrieb den Satz:
Positiv Denken ist das Gegenteil von Denken. - Ilse Aichinger, Wien

Also haben Sie heute, in 2020, aus technischen bzw. digitalen Gründen die Möglichkeit, alleine als Mitglied von Facebook, XING, Instagram oder anderen Tools "Mitglied einer Community" zu sein.

Darauf können Sie sich nun für sich achten - oder RednerInnen entsprechend relativieren:
  • Entspringt Ihr Gedanke oder Ihre Regung dem universitären Denken - der THEORIE?
  • Entspringt Ihr Gedanke oder Ihre Regung der persönlichen Freiheit, betroffen zu sein?
  • Entspringt Ihr Gedanke oder Ihre Regung dem "Geiste der gewählten Gemeinschaft"?
  • Entspringt Ihr Gedanke oder Ihre Regung einem Mix all dieser Möglichkeiten?

Damit haben Sie nun eine Skala von 
  • Höchst theoretisch
  • wissenschaftlich
  • belegt
  • profund oder anerkannt
bis hin auf die Gegenseite von
  • persönlich
  • gefühlt, wahrgenommen
  • bedürfend bis bedürftig
  • in der Gruppe ausgemacht
  • vom Hören-Sagen
  • so empfunden
  • aus eigener Betroffenheit

Für beide Seiten gibt es heute die gleichen technischen Voraussetzungen, den "eigentlichen oder eben eigenen Gedanken" zu verbreiten. Die Wirkung ist "Ge'Folg'schaft" - ganz einfach 'Follower'. Dass man bei einer wachsenden Zahl an FollowerInnen ein Gefühl gewinnt, im Recht zu sein, kann dann als "demokratisch, sprich mehrheitlich" ausgelegt werden, fällt aber vermutlich durch das pragmatische und daher unbeliebte Denken der Wissenschaft, welches niemanden bevorzugt. Man fühlt sich von der Theorie gleich wieder als "Betroffene/r", da zurückgeworfen bzw. abgehandelt oder bevormundet.

Wir unterscheiden also zwischen einem alten Wissen der staatlichen Konstitution - und der durchaus brauchbaren (Bauern)schläue, die z.B. auch in diesem Posting eine Form von Ursprung und Ausdruck findet. Es gibt auf Zuckerbeuteln den Spruch: 'Während die Weisen noch studieren, erobern die Dummen die Festung.'

Der Kirchenmann und Philosoph Christian Müller schrieb ein Buch mit dem Titel "Auseinadersetzung als Versöhnung". In dem Bild bleibt jener Anteil am geforderten Demokratischen der persönlichen Meinung erhalten: Dass der Standpunkt anderer ebenso ein Teil der Gemeinschaft ist. Und dass man für die eigene Freiheit bereit ist sich anteilig einzuordnen und einzubringen, damit auch alle anderen ihre Freiheit erfahren und leben dürfen.

Praxis:
Vor und in jedem Gefecht kann es gut tun, DREI Dinge getrennt im Auge zu behalten und zu relativieren: 
  • Die eigene Position
  • Die Position der Anderen
  • Die Sache selbst

Coaching:
Im Coaching kann es dienen, Betroffenheitsempfindungen zu klären und aufzulösen, z.B. das Empfinden "immer das Opfer zu sein". Das hilft dabei, wirksame Rezepte und Vorgehensweisen zu entwickeln, sachlich und konzentriert aus solchen "Bindungen" herauszukommen und frei entscheidend handeln zu können.

Diese Selbstsicherheit oder Souveränität wird daher wichtig, als dass die oben gezeigte Skala von sachlichem Denken und berührtem Empfinden in dieser Zeit durch eine ganz neue aber gewaltige Kraft nochmals durchdrungen wird - durch die Wissensinhalte der Disruption in Form der Künstlichen Intelligenz. Das wird unsere bisherigen Standpunkte als "Fakt" so sehr kleinmachen, dass es viel Sinn macht, dem Beachtung zu schenken, was mein Vater mir vor 40 Jahren in einem Brief schrieb: "Man muss sehr wach sein, um träumen zu können." - Klaus Jakob, 1978.

Willkommen.


www.jonajakob.com
Aschaffenburg Frankfurt Zürich


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